Datenschutz und Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind in digitalen Gesellschaften keine Privatsache, denn Informationen, die einzelne preisgeben, dienen zur gesellschaftlichen Sortierung. Künstliche Intelligenz wird für Erziehungstipps, Computerspiele werden für Bildung eingesetzt. Was „Aufwachsen in digitalen Gesellschaften“ bedeutet, diskutierten etwa 120 Teilnehmende der diesjährigen Medienethik-Tagung in München.
Über Internetzugang und Computer verfügen nach der aktuellen KIM (Kinder, Internet, Medien)-Studie 97 Prozent aller Haushalte mit Kindern, informierte Medienforscherin Ingrid Stapf in ihrem Einführungsvortrag. 43 Prozent der 6- bis 13-Jährigen nannten Youtube als ihre Lieblingsseite. Aus medienethischer Sicht sei es entscheidend, ob Mädchen und Jungen digitale Medien und Plattformen wie Youtube verantwortungsbewusst nutzen könnten, ob Elternhaus, Schule und Medienschutz eine autonome und kompetente Entscheidungsfindung beförderten.
Wenn Robotertechnik in Gestalt sprechender Barbie-Puppen ins Kinderzimmer einziehe, stellten sich Fragen nach der Überwachung und Auswertung der Daten von Kindern: Wie wird das digitale Spielzeug programmiert und kodiert und welche Folgen hat es, „wenn wenige Global Player diese digitalen Schnittstellen gestalten“? Hier gehe es nicht um Kinderrechtsschutz, sondern um den Schutz von Menschenrechten für alle. Wenn die digitale Öffentlichkeit mit Blick auf Kinder und mit dem Blick von Kindern gestaltet werde, könne auch die Angewandte Ethik „im Zeitalter von Diversität kontextsensibel fortentwickelt werden“, resümierte Stapf.
Überwachung zwischen Fürsorge und Kontrolle
Eltern betrachten es zumeist als Fürsorge, wenn sie ihre Kinder zum Beispiel mit einer Smartwatch überwachen. Doch das ist strafbar: „Bundesnetzagentur verbietet Kinderuhren mit Abhörfunktion“ titelte der Spiegel im November 2017. Als „Gängelband des 21. Jahrhunderts“ bezeichnete der Marburger Medienforscher Dietmar Kammerer das Smartphone in seinem Vortrag zum Thema Überwachung, die er zwischen Fürsorge und Kontrolle verortete. Überwachung sei Teil des Alltags in der Informationsgesellschaft geworden und durchaus ambivalent.
So könne sie die Privatsphäre schützen, wenn zum Beispiel digitale Technik zur Überwachung des Hauses eingesetzt werde. Sie könne die Privatsphäre aber auch verletzten, wenn Daten über Kaufkraft, Bildungsstand oder Wohnort gesammelt und Menschen zu Werbezwecken in sozioökonomische Gruppen eingeteilt werden. Dieses „Social Sorting“ vertiefe soziale Grenzen in der Gesellschaft, so Kammerer, der analog zum Umweltschutz forderte, die „Infosphäre der Daten so zu behandeln, dass andere nicht zu Schaden kommen“. Er plädierte für eine „Ethik der Solidarität“, denn wenn Daten preisgegeben würden, habe das auch Folgen für andere: „Die Privatsphäre ist keine Privatsache!“
Eltern müssten auch verantwortungsbewusst mit Daten und Fotos ihrer Kinder umgehen, denn „Kinder haben ein Recht auf eine offene informationelle Zukunft“, so Ethiker Christoph Schickardt. Diese offene Zukunft sollen ihnen auch Datenschutzgesetze sichern. Medienforscherin Kathrin Häring verglich die EU-Datenschutzgrundverordnung, die im Mai 2018 in Kraft tritt, mit dem US-amerikanischen Children’s Online Privacy Protection Act von 2000. Da in den USA – anders als in Europa – Datenschutz kein Grundrecht ist, gibt es spezielle Regelungen, die Kinder bis 13 Jahre schützen. Danach müssen Eltern immer informiert werden und einwilligen, wenn ihre Sprösslinge Online-Dienste nutzen, Daten-Tracking mit anschließendem Profiling ist verboten. Häring kritisierte, dass Deutschland von der Öffnungsklausel des EU-Datenschutzgesetzes Gebrauch macht und das Alter für die Online-Dienste-Nutzung auf „realitätsferne“ 16 Jahre heraufsetzt. Außerdem sei die Zustimmung der Eltern hier weniger streng geregelt.
Herausforderungen für Bildung, Pädagogik und Journalismus
Wie außer rechtlichen Regulierungen auch Bildung zu mehr IT-Sicherheit beitragen kann, erläuterte Informatikprofessor und Hacker Dominik Merli. Spielzeug entpuppe sich als „verstecktes Spionagegerät“, wenn etwa 2,2 Millionen Sprachdateien aus Kind-Teddy-Gesprächen offen im Netz kursierten. „IT-Sicherheit ist kein technisches, sondern ein menschliches Problem“, sagte Merli. Aus Bequemlichkeit werde alles gedankenlos vernetzt – ob Heizung oder Sprachteddy. Deshalb engagiert er sich seit 2008 im Projekt „Chaos macht Schule“ des Chaos Computer Clubs (CCC), das Schüler_innen, Eltern und Lehrerschaft in Medienkompetenz und Technikverständnis stärken soll. Da freue er sich, wenn Kinder nach der Schulung sagen: „Ich will nicht, dass meine Daten in die USA geschickt werden.“
„Kinder und Jugendliche sind gewohnt zu lernen, nicht aber der 40jährige Erwachsene“, beschrieb Mechthild Appelhoff von der Landesmedienanstalt NRW eine neue Herausforderung der Medienpädagogik. Digitale Selbstbestimmung betreffe jeden, der Profildaten preisgibt, wenn er Facebook, Google, Twitter nutzt. Es gelte, über Funktion und Wirkung von Medien zu informieren sowie Handlungsempfehlungen zu geben und auf Initiativen wie „klicksafe“ hinzuweisen. Für Medienpädagog_innen sei es schwierig, immer auf dem aktuellen Stand zu sein. „Aber, wenn wir mitgestalten wollen, müssen wir auf Augenhöhe kommen“, so Appelhoff, die nicht nur Kompetenzen, sondern auch Haltung und demokratische Werte vermitteln will. Sie fordert: „Die Ökonomiegetriebene Digitalisierung verändert die Gesellschaft in ihren Grundfesten. Politik muss ihren Gestaltungsanspruch gegenüber der Wirtschaft deutlich machen!“
Wie diese Digitalisierung Journalismus verändert, erläuterte Jana Petersen, freie Autorin aus Berlin: „Früher haben Medien Reichweite verkauft, jetzt müssen sie Reichweite kaufen.“ Medien seien Facebook ausgeliefert, zunächst hätten sie die Plattform „gefüttert, nach der Algorithmusveränderung brach für sie ein ganzer Kanal weg.“ Da Journalist_innen verschiedene Kanäle mit News beliefern müssten, hätten sie weniger Zeit für Recherche. Die Digitalisierung habe „eine Migrationswelle aus dem Journalismus ausgelöst“ und seine Prekarisierung: Zwei Drittel könnten nicht mehr von ihrem Job leben, besonders Freie.
Inhaltlich bestehe die Gefahr, dass der Journalismus „marktschreierischer“ werde, da die Headline jetzt für alle Zeitungen an Bedeutung gewinne. Der Anspruch zu erklären und einzuordnen, funktioniere nicht mehr. Digitalisierung biete aber die Chance, Hierarchien abzubauen und auf Augenhöhe mit Leser_innen zu kommunizieren“, so Jana Petersen. Diese hätten „Angst vor digitalen Themen“. Aber die digitale Welt sei „Fakt“ und man müsse mit ihr umgehen. Das thematisierte Petersen in „Das digitale Kind: Wohlerzogen dank Künstlicher Intelligenz?“ In dem Artikel berichtet sie, wie sie zusammen mit ihrem vierjährigen Sohn ein halbes Jahr lang die Erziehungs-App „Muse“ getestet hat, die von einer kalifornischen Neurowissenschaftlerin entwickelt wurde. Erschreckend sei, wie viele Daten von Mutter und Kind gesammelt werden, aber die Erkenntnisse habe sie als inspirierend empfunden, meinte Petersen.
Wie Gamer spielend fürs Leben lernen
Virtuelle Realitäten können nützlich für die analoge Wirklichkeit sein. Das demonstrierte Linda Breitlauch, seit 2008 erste Professorin für Gamedesign in Deutschland, am Beispiel von Computerspielen, die „über Spielfreude Lerninhalte vermitteln“. Besonders „serious games“ ermöglichten Gamern ein „Probehandeln“ ohne reale Konsequenzen und stärkten dadurch das Vertrauen in eigene Fähigkeiten. Menschen mit Behinderungen bekämen mehr Teilhabechancen, denn es sei leichter, Zugang zu virtuellen Communities zu finden als zu realen Gruppen. Es gebe Spiele mit Eye-Tracking-System, so dass man mit den Augen 3-D-Modelle bauen kann.
Zwei Drittel der 6- bis 13-jährigen Kinder spielen täglich oder mehrmals in der Woche, berichtete Medienpädagoge André Weßel und Fußballvereine wie FC Schalke 04 richteten bereits E-Sport-Abteilungen ein. Da digitale Spiele mittlerweile zur Jugendkultur gehören, werden sie zunehmend in Bildungskontexten eingesetzt. Abenteuerspiele wie „Minecraft“ regten zum Beispiel zu ethischem Abwägen an. Wenn die Gamer erführen, wie andere Spielende in Dilemmatasituationen reagierten, dächten sie über ihre eigenen Entscheidungen nach. Deshalb seien Reflexionsgespräche wichtig, um Medienkompetenz für digitale Spiele zu vermitteln.
Mit dem medienethischen und medienpädagogischen Fokus dieser Tagung wurde das Schaffen des inzwischen emeritierten Rüdiger Funiok geehrt, der das Netzwerk Medienethik seit seiner Gründung 1997 koordiniert. Ab 2013 übernahm Medienethik-Professor Alexander Filipović die Federführung. Die Münchener Tagungen finden zukünftig im Zwei-Jahres-Rhythmus statt.
Die Tagungsteilnehmenden verabschiedeten außerdem einen Aufruf zur Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie forderten die Politik auf, den „verfassungsrechtlich tief in der Gesellschaft verankerten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verteidigen und zu schützen und damit einen der wichtigsten Faktoren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken“.
Zuerst erschienen am 26. Februar 2018 bei „M Menschen – Machen – Medien“.