Die Tech Open Air (TOA) ist eine internationale Konferenz an der Nahtstelle von Technologie, Musik, Kunst und Wissenschaft. Als Crowdfunding-Projekt 2012 gestartet, versammelte das Festival im ersten Jahr schon 850 Teilnehmer. 2013 stieg die Zahl der Teilnehmer auf 2.000, 2014 waren es 2.750 und 2015 bereits über 5.000. In diesem Jahr feierten mehr als 11.000 Teilnehmer aus der ganzen Welt, vom 13. bis 15. Juli, das fünfjährige Bestehen des interdisziplinären TOA-Festivals (http://toa.berlin).
Es geht um nicht weniger als unsere Zukunft, um die Etablierung und Identifikation einer globalen Technokultur, die sich von den arrivierten Prinzipien der vordigitalen Zeit nicht ausbremsen lassen will. Eine Generation, die darauf brennt die Grenzen der analogen Welt zu überwinden, die ethische Fragen aufwirft, Wertdebatten führt, ihre eigenen Gesetze proklamiert und technische Lösungen für deren Umsetzung konzipiert und entwickelt.
Nirgendwo sonst in Europa ist die Euphorie und Dynamik dieser Generation deutlicher spürbar, als bei der TOA im Funkhaus Berlin. Früher verkündeten alle überregionalen Radiosender der DDR ihre Botschaft unisono aus dem inzwischen denkmalgeschützten Gebäudekomplex in der Nalepastraße an der Spree. Heute schwört ein sogenannter Social Alchemist aus Kalifornien, untermalt von rhythmischen Beats und harmonischen Klängen, die Teilnehmer des Festivals im Studio 1 (einem für seine besondere Akustik weltweit bekannten Sende- und Aufnahmesaal) auf den kreativen Geist des Burning Man ein.
Paradoxien und Widersprüche treten in diesem Schmelztiegel der Ideen an allen Ecken und Enden auf. Wie könnte es auch anders sein? Vieles von dem was hier diskutiert wird, ist in der Realität Neuland. Es wird in Beziehung gesetzt zu Kunst und Kultur, Musik und Wissenschaft. Es sind nicht die etablierten Unternehmen, die hier den Ton angeben. Jungunternehmer und Startups dominieren das Geschehen. Sie tauschen sich aus, reflektieren konkrete Chancen und Möglichkeiten der Partizipation, bis spät in die Nacht, auf den 177 Satelliten-Events des Festivals in ganz Berlin.
Über einen Zeitraum von drei Tagen formt sich aus dem multikulturellen Teilnehmerfeld eine kosmopolitische Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit durch ein vernietetes Einlassband aus Textil mit TOA-Logo einen physikalischen Ausdruck findet.
Dezentralisierung ist ein verbreitetes Motto innerhalb der Community, welches sich bei der Vision einer neuen Informationsökonomie mittels Blockchain ebenso wiederfindet, wie bei der Organisation von Arbeit unter dem Stichwort Holacracy. Kontroverser geht es beim Thema Online-Privacy zur Sache. Die Ambivalenz, die dieses Thema begleitet, offenbart sich in den Zwischenräumen. Zahlreiche Applikationen, wie die Technologien, die das Lernen von Fremdsprachen beschleunigen, Livestreams verarbeiten, personalisierte Musik oder Medikamente bereitstellen u.v.m., basieren selbstverständlich auf der Auswertung von personenbezogenen Daten.
Wem aber gehören diese Daten? Wer darf genau wann exakt was damit machen? Ist der schnelle Nutzen, den diese Applikationen versprechen (z.B. 10x schneller Französisch lernen, check: www.lingvist.com), durch eine rasche Güterabwegung zu rechtfertigen? Informations- und medienethische Fragen wie diese gehen in der allgemeinen Begeisterung scheinbar verloren. Allerdings nur scheinbar. In parallel stattfindenden Vorträgen werden diese Fragen in Studio 3 dann sehr wohl thematisiert. Muneeb Ali, ein Mitgründer von Blockstack Labs aus New York, referiert über „The Internet’s Missing Layer of Trust“ und präsentiert eine technische Lösung des Problems, die er auf einem Zeitstrahl mit der Erfindung des Internets platziert. Seine Punkte für eine neue Verfassung für die Bürger des Internets (Constitution of an Open Decentralized Web):
#1 Owner’s instructions always override remote instructions
#2 Disclosing true security facts is always legal
#3 You have the right to directly own digital property
#4 You have the right to audit your communication channel
Gut 20 Jahre nach Barlow‘s Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace formiert sich eine neue Generation vor dem Hintergrund der Überwachungs- und Spionageaffäre und mit dem Wissen um die Gefahren der Datenkonzentration bei den großen Internetkonzernen, um den Gedanken von der Informationsfreiheit im Netz wieder neu zu beleben. Das Netz soll neu gewebt werden. Dezentral und maximal verschlüsselt soll eine wesentlich effizientere und öffentliche Infrastruktur entstehen. Das klingt auf den ersten Blick gut.
Doch besteht das höchste Ziel moralischen Handelns im Cyberspace wirklich darin, alle Aktivitäten und Identitäten der Nutzer bis zur Unkenntlichkeit zu verschlüsseln? Der aktuelle Hype um die Blockchain legt diesen Schluss zumindest nahe – ohne ihn selbst zu thematisieren. „Code, not Kings or Presidents, are in charge“, um die Wertvorstellungen des globalen Informationsraums zu sichern, so lautet das Paradigma von Ali. Die Utopie einer freien und gemeinschaftlichen Weltöffentlichkeit setzt allerdings auch eine sekundäre Alphabetisierung voraus, welche die Bürger des Internets in die Lage versetzt, den Code eigenständig zu decodieren. Praktisch wirksam können die neuen Spielregeln schließlich nur dann werden, wenn sie von allen realisiert werden können (siehe z.B. #1 oben).
Erst dann kann auch eine breite ethisch-moralische Auseinandersetzung mit den impliziten Wertvorstellungen „des Codes“ stattfinden, der bisher natürlich v.a. die Wertvorstellungen der Programmierer und Designer wiederspiegelt (das wird bei dem obigen Paradigma von Ali leider ausgeblendet). Entspricht der Wunsch der totalen Anonymisierung möglicherweise nur den Präferenzen neoliberalistischer Technologie-Anarchisten, die niemanden mehr Rechenschaft über ihre Online-Aktivitäten und ihr Verhalten im Internet schuldig sein wollen? Gibt es nicht auch eine breite Öffentlichkeit, die angesichts der anhaltenden Terroranschläge bereit ist, einen Teil ihrer Privatsphäre für ein Mehr an Sicherheit zu opfern? Wie lassen sich soziale Umgangsformen und faire Kommunikationsregeln unter dem Vorzeichen der Identitätsverschleierung im Web aufrechterhalten (Stichwort: Hate Speech und Shitstorm)?
Medien konstruieren unsere Welt und bilden mit zunehmender Bedeutung den Rahmen wie wir einander begegnen. Es besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass sich eine junge technikaffine Generation – als Reaktion auf die Geschäftspraktiken der Big-(Internet-)Player und aufgrund des Vertrauensverlusts durch die Machenschaften der Geheimdienste – künftig nur mehr im sogenannten Darknet begegnet. Andererseits bieten die hier präsentierten Technologien aber auch die Möglichkeit, den Schutz der Privatsphäre und der digitalen Selbstbestimmung ernsthaft voranzubringen und einen gemeinsamen medialen Erscheinungsraum zu gestalten, den Roger Silverstone in Anlehnung an Hannah Arendt als Mediapolis charakterisierte (Silverstone 2007).
Veranstaltungen, wie die Tech Open Air in Berlin, schaffen einen Raum für diese Auseinandersetzung – indem man sich nicht nur virtuell, sondern auch körperlich (von Angesicht zu Angesicht) begegnet. Zusätzlich zu der Veranstaltung in Berlin wird die TOA im Herbst 2016 übrigens zum ersten Mal auch in Los Angeles stattfinden (http://techopenair.la). Schließlich gibt es noch sehr viel zu besprechen. Insbesondere bei der Gestaltung einer privaten und gemeinschaftlichen Ethik.