Schluss mit dem Lavieren und Dümpeln: ein medienethischer Kompass – für Journalisten, Funktionsträger und für das (publizierende) Publikum muss die zentrale Lehre sein aus dem medialen und kommunikativen Schlamassel rund um die Ausschreitungen in und nach der Silvesternacht in Köln.
In dieser Krise liegt eine große Chance. Und zwar dann, wenn wir begreifen, wie wichtig es ist, Erklärungen und einen Kompass bereit zu halten für die Entscheidung, welche Informationen dem Publikum zuzumuten sind und öffentlich werden müssen und welche unterlassen werden sollten. Nur so können wir die Wende einleiten weg von demokratiegefährdenden Rundumschlägen gegen Journalismus als solchem, hin zu einer differenzierten und wichtigen Medienkritik; und nur dann kann der Diskurs darüber, wie wir in unserer Gesellschaft leben wollen, konstruktiv Fahrt aufnehmen.
Schweigen oder Veröffentlichen?
Man mag das anfängliche Schweigen insbesondere in öffentlich-rechtlichen Sendeformaten mit Verunsicherung erklären. Aber dies rechtfertigt nichts, sondern mahnt, medienethisch auf Kurs zu kommen, also bewusst Wahrheiten zuzumuten und dem Publikum zuzutrauen, dass es auch unbequeme Wirklichkeiten einzuschätzen vermag.#
Richtlinie 1 des Deutschen Pressekodexes sagt klar: „Die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse“; dies sei die Basis für Ansehen und Glaubwürdigkeit der Medien. Übertragen auf jene Silvesternacht steckt darin die Empfehlung: Berichten, was Reporter vor Ort gesehen haben, was ihnen Einsatzkräfte (Polizei, Rettungsdienst etc.) schilderten – und deutlich machen, was noch nicht bekannt ist, wo noch nachgeforscht werden muss und wo nur Widersprüchliches zu erfahren war. So zu berichten und zu reflektieren, wäre weit glaubwürdiger und würde klar einen Gegenpol markieren zur Herabsetzung des journalistischen Berufsstandes durch Begriffe wie „Lügenpresse“ sowie der durch alle Gesellschaftsschichten sich durchziehenden Gleichgültigkeit oder undifferenzierten Geringschätzung von Journalismus generell. Ereignisse sind eben nicht erst oder nur wahr, wenn sie im Polizeibericht stehen – im Gegenteil. Die Arbeit der Polizei kritisch zu beobachten, ist Teil des Auftrags an professionellen Journalismus.
Wann muss man Flüchtlinge Flüchtlinge nennen?
Ein Grundpfeiler ethischen Abwägens ist, vorher darüber nachzudenken, was folgen könnte, wenn man bestimmte Informationen veröffentlicht. Es wäre jeweils zu fragen: Wird dies die Öffentlichkeit eher aufrütteln, also positive Folgen haben? Oder das Gegenteil? Und was wären wohl die Folgen, wenn man nicht berichtet?
Der Pressekodex empfiehlt in Richtlinie 12, die ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeit eines Menschen nur dann zu nennen, wenn dies für das Verständnis beispielsweise einer Straftat notwendig ist; diese Einschränkung soll Stereotypen und Klischees vorbeugen. Die Richtlinie würde dazu auffordern, eine mutmaßlich arabische oder nordafrikanische Herkunft nicht zu erwähnen. Aber Ethik ist immer ein Abwägen – auch zwischen verschiedenartigen Empfehlungen: Welche wiegt schwerer? Entscheidend sind Kontext und Differenzierung. Wenn gegenwärtig breite Kreise der Gesellschaft fürchten, von Flüchtlingen gehe ein besonderes Risiko aus, oder wenn sie glauben, nur Flüchtlinge könnten in Köln die Täter gewesen sein, dann kann – siehe Richtlinie 1 – gewichtig sein, das Thema Herkunft von vornherein aufzugreifen: War bei den Ausschreitungen die Herkunft der Täter überhaupt bekannt oder nur eine Vermutung, spielte Herkunft eine Rolle? Denn sexuelle Übergriffe auf Frauen beispielsweise gab es nicht nur an Silvester 2015/16 in Köln, sondern gibt es auch auf dem Oktoberfest in München oder an Karneval – und auch durch Männer anderer Herkunft (und auch auf Männer). Ähnliches gilt auch für organisierte Diebstähle oder Feuerwerkskörperattacken.
Transparenz hochhalten, Echtheit prüfen, Kante zeigen!
Ein Beispiel: Köln TV (das Fernsehen des Kölner Stadtanzeigers) thematisierte am 11.01.16, dass Videomaterial des Senders, das eine am Sonntag aus der Menge der Pegida-Demonstranten abgeschossene Rakete zeigte, offenbar in einer manipulierten Version im Netz verbreitet wurde, in der der Feuerschweif retuschiert war. Damit sollte wohl Journalisten unterstellt werden, sie selbst hätten den Feuerwerkskörper gezündet, damit die Polizei die Demonstration auflöst; und auf der Köln-TV-Facebook-Seite wurden, so Moderator Oliver Schöndube Journalisten unter anderem mit „Get Cancer“ (bekommt Krebs!) beschimpft.
Darin steckt mehrerlei. Wieder einmal wird klar, wie wichtig alte journalistische Tugenden weiterhin sind: Das Überprüfen von Informationen auf ihren Wahrheits- und Echtheitsgehalt; denn dieses Video ist nur ein weiteres Beispiel für zahlreiche Fälschungen, die im Netz kursieren. Und wieder einmal wird klar, wie wichtig es ist, dass Medien ihrem Publikum transparent machen, wie sie arbeiten und welche spezielle Leistung sie erbringen. Wieder wird zudem offensichtlich, dass wir den Filterblaseneffekt noch weit ernster nehmen müssen: Soziale Medien verwenden bestimmte Algorithmen, durch die Menschen vor allem mit ihren eigenen Sichtweisen konfrontiert werden; so schaukeln sich auch Ängste und radikale Ansichten hoch bis hin zum Hass. Wieder einmal wird also deutlich, dass klar unterschieden werden muss zwischen einem Diskurs, in dem es auf der einen Seite um durchaus kontroverse Meinungen zu einem Thema geht, um Ängste und Sorgen und auf der anderen Seite um Hass: Hass ist keine Meinung, „get cancer“ keine Meinungsäußerung, sondern eine Beleidigung, bei der Redaktionen dringend Kante zeigen, strafrechtliche Relevanz prüfen und solcherlei zur Anzeige bringen sollten.
Auch dies ist eine Frage der Ethik, also der Werte-Orientierung. Beides – Kante zeigen und der Diskurs – sind Aufträge an jeden von uns und eine Frage der Haltung: Systematische Herabsetzung müssen wir uns nicht gefallen lassen – nicht als Bürger, nicht als Journalisten.
Marlis Prinzing ist Professorin für Journalistik an der Macromedia Hochschule Köln, Medienethik ist einer ihrer Lehr- und Forschungsschwerpunkte. www.marlisprinzing.de