Das Bild des toten Ailan – ein medienethischer Kommentar

Gestern verbreitete sich via Twitter das Bild des toten Ailan. Das Bild wird mit dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik gekennzeichnet, türkisch: „Die fortgespülte Menschlichkeit“. Ob das Bild in den Medien gezeigt wird, ist Abwägungssache. Ich würde das Bild nicht publizieren, auch wenn das Foto die Flüchtlingskrise und das Versagen internationaler Politik symbolisiert wie bisher kein anderes.

[Anm.: Die verlinkten Artikel zeigen zum Teil das Bild bzw. Szenen vom Fundort.] 

Das Bild zeigt einen dreijährigen Jungen, tot am Strand liegend, angespült in der Nähe von Bodrum (Türkei). Nach Medienberichten ist der Junge ertrunken bei einem Fluchtversuch nach Kos (siehe der Bericht bei Zeit-Online und der Artikel bei sueddeutsche.de). Ich kann über das Bild kaum etwas sagen, ohne dass mir die Tränen kommen.

Wie auch bei dem Bild der Flüchtlinge, die in einem LKW gestorben sind, handelt es sich um ein Dokument der menschlichen Katastrophe, die diese Flüchtlingskrise darstellt. Es schockiert, es ist unzumutbar, aber es ist wahr. Es bleibt die Frage: Kann oder soll man das Bild abdrucken, im TV zeigen oder nicht? Ich würde sagen: besser nicht.

Wie die Medien sich verhalten

Soweit ich das überblicken kann, haben deutsche Medien das Bild heute mit einer Ausnahme nicht abgedruckt (morgen mag das anders sein). Die „Bild“ zeigt das Foto heute auf seiner letzten Seite auf schwarzem Grund mit einem Kommentar (vgl. der Bericht bei meedia, inkl. Abbildung des Jungen). Viele Online-Websites zeigen das Bild, auf dem ein Polizist den Jungen aufhebt und weg trägt, etwa die FAZ. Suedeutsche.de zeigt das Bild gar nicht und El Periodico (Spanien), verpixelt das Gesicht des Jungen. Der Kölner Stadtanzeiger ist noch zurückhaltender und verzichtet sogar auf die Szene und bildet nur den Polizisten am Strand ab. Unter dem Artikel der Kommentar:

Unsere Redaktion hat sich in diesem Fall dazu entschlossen, das Foto nur im Anschnitt zu zeigen, damit Sie als Leser selbst entscheiden können, ob Sie sich die Aufnahme ansehen wollen. Sie finden das gesamte Bild im verlinkten Bericht von „El Periodico“. (Quelle)

 

Publikation Abwägungssache

Es sind vier Werte oder Argumente, die (zum Teil) hier in Konkurrenz miteinander stehen:

  1. Die Würde des Jungen: Der Tod eines Menschen betrifft seine Würde. Einen Toten zu sehen, erschüttert uns. Wie wir mit Toten umgehen, zeugt davon, wie wir die Menschenwürde schützen. Einen verstorbenen Menschen abzubilden – dafür braucht man gute Gründe. Diese Gründe gibt es – auch in diesem Fall. Aber auch dann gibt es Möglichkeiten, seine Würde zu schützen und damit eine Kultur der Menschenwürde zu bewahren und zu fördern: Das Gesicht darf nicht zu sehen sein, die Bildsprache muss in diesem Sinne würdevoll sein, der Kommentar zum Bild muss passen. Keinesfalls darf es reißerisch präsentiert sein.
  2. Zumutbarkeit, Schutz der LeserInnen und Zuschauer: Menschen sind mit solchen Szenen überfordert. Viele wollen so etwas nicht sehen und sie würden keine Anstrengungen unternehmen, das Bild zu recherchieren. Kinder und Jugendliche, auch Erwachsene sind mit dem Bild unter Umständen überfordert. Würde man es seinen Kindern zeigen? Reichen Sie das Bild am Frühstückstisch ihrer Familie umher? Ein Gefühl für die Zumutbarkeit ist notwendig in Redaktionen und bei Journalisten. In diesem Fall ist Zumutbarkeit und der Schutz der Leser und Zuschauer meines Erachtens wichtig. Vor allem aus diesem Grund würde ich es nicht bringen. Ich folge damit der Argumentation (und dem starken Artikel) von Stefan Plöchinger auf sueddeutsche.de.
    Interessanter Weise wird bei diesem Argument oft „Zensur“ gewittert. Aber: Selbstverständlich entscheiden Journalisten täglich, was gezeigt wird und was nicht. Das ist ihr Job und ist nicht “Zensur”. Und dabei spielen rechtliche Dinge, Gemeinwohlverantwortung, ihre Pflicht zur Veröffentlichung (siehe Punkt 3), aber auch moralische Einsichten (Punkt 1) ebenso wie ein Gefühl für Zumutbarkeit eine Rolle. Man kann sich für eine Publikation entscheiden, und dafür gewichtige Argumente bringen. Aber eben auch dagegen, ebenfalls mit gewichtigen Argumenten.
  3. Journalistische Pflicht zur Berichterstattung und Information über die Realität der Flüchtlingskrise: Journalisten haben die Verantwortung, über die Dinge der Welt wahrheitsgemäß zu berichten und die Öffentlichkeit zu informieren. Sie sind der Öffentlichkeit verpflichtet und damit dem Gemeinwohl. Die Flüchtlingskrise ist komplex, die Realität des Leidens der Menschen ist vielfältig. Ein einziges Bild, mit dem diese Realität deutlich gemacht werden kann, ist ein Glücksfall. Daher kann es angezeigt sein, das Bild zu publizieren – in Abwägung mit den anderen Werten. Die Welt muss von der humanitären Katastrophe erfahren. Wenn das Bild für diese Katastrophe steht, ein Symbol dafür ist, kann man es in dieser Weise und unter Berücksichtigung von 1. und in Abwägung mit 2. bringen.
  4. Menschen aufrütteln wollen: Manche Journalisten argumentieren, dass sie Menschen mit dem Bild bewegen wollen zu handeln oder Druck auf die Politiker auszuüben. Sie wollen Menschen schockieren, konfrontieren mit dem Leid, damit diese handeln oder ihre Einstellung verändern. Meines Erachtens funktioniert das mit Bildern nicht. Schockierende Fotos lähmen eher (das trifft meines Erachtens besonders auf das LKW-Foto zu). Aber auch die platte erzieherische Attitüde stört mich an diesem Argument. Zudem bewegt ein solches Vorgehen die Menschen zum Kauf einer (Boulevard-) Zeitung und bedient in ökonomischer Absicht Sensationsinteressen – jedenfalls potentiell. Natürlich ist es wünschenswert, dass mehr Menschen sich für Flüchtlinge und eine gerechte Politik und für mehr Frieden engagieren. Mit Schock- und Schreckensfotos gelingt das nicht.

Meine Abwägung

Ich würde das Foto nicht bringen und halte das Vorgehen von, zum Beispiel, Kölner Stadtanzeiger und sueddeutsche.de für beispielhaft. Hier wird deutlich, dass reflektiert und abgewogen wurde und diese Überlegungen wurden publiziert. Und es werden Möglichkeiten angedeutet oder gezeigt, wie das Foto angeschaut werden kann, so dass jeder in Kenntnis von dem, was abgebildet wird, selber entscheiden kann, ob er oder sie es sich anschaut.

Viel wichtiger als diese Frage ist natürlich, was (weltweit) getan wird,  damit keine Kleinkinder ertrinken und solche Fotos nicht entstehen können.

 

Alexander Filipovic

Professor für Sozialethik an der Universität Wien, Schwerpunkte: Medienethik, Technikethik, politische Ethik, Wirtschaftsethik

10 Kommentare:

  1. Was mit unter Zumutbarkeit fehlt: Es sind nicht einfach nur Erwachsene, Kinder und Jugendliche mit dem Bild konfrontiert. Sondern auch Menschen, die selbst geflüchtet sind, die selbst Kinder oder jemand anderen auf der Flucht verloren haben.
    Wenn wir in Zeiten globaler Migrationsbewegungen über Medienethik sprechen, sollten wir anfangen, ein Publikum zu antizipieren, das nicht nur aus deutschen (weißen) Menschen ohne jegliche Fluchterfahrung besteht.

    und was in diesem Kontext meines Erachtens auch fehlt: wem gestehen wir zu, vor politischer Instrumentalisierung und Voyeurismus geschützt zu werden? Machen wir dabei Unterschiede?

  2. Vielen Dank für die sehr gute Analyse. Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wie ich entschieden hätte, wenn ich noch in einer Redaktion arbeiten würde. Ich kann aber sagen, was die Bilder von den toten Flüchtlingen im ungarischen Lkw und das Foto des ertrunkenen Jungen bei mir ausgelöst haben: Sie haben meine Wut auf die Politik, auf Hetzer und auf Schwarz-Weiß-Maler verstärkt. Ausführlich hier: http://www.dominik-faust.de/ich-bin-so-wuetend/

  3. Ich war zunächst auch dagegen, das Foto des kleinen Aylan zu teilen (habe es auch selbst nie auf Facebook geteilt oder „geliked“), weil ich die Persönlichkeitsrechte der Familie und des Jungen im Vordergrund sah, aber mittlerweile sehe ich Punkt 3 ganz vorne: die journalistische Pflicht. Ich würde sogar soweit gehen, dass wir die menschliche Pflicht haben, dieses Bild anzusehen, denn es liegt (auch) an uns, zu verhindern, dass weiteres Leid geschieht. Wir dürfen die Augen vor dem Leid der Menschen nicht verschließen – und diese Bilder zwingen uns, hinzusehen. Es ist furchtbar schmerzlich, aber noch viel schmerzlicher ist es, für diejenigen, die dieses Leid Tag für Tag erdulden müssen. Und ich stimme nicht mit Dir überein, dass Bilder nur lähmen. So hat sich die Zahl der Spenden sprunghaft erhöht seit gestern und hier in Dresden melden sich auf einmal viel mehr Leute, die auch Sachspenden bringen wollen. Ich hoffe nun, dass durch den Druck der Bevölkerung sich auch in der Politik etwas ändert.

  4. Ich verstehe nicht, warum das Zeigen dieses Bildes die Würde des Kindes verletzen soll. Das Foto zeigt das Kind nicht entstellt oder lächerlich. Es weckt vielmehr Anteilnahme und Empathie.

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